Lesedauer: 5 Min. | Dominic Dithurbide | 18. April 2016 |
Am 23. Juni stimmen die Briten in einem Referendum darüber ab, ob Großbritannien aus der Europäischen Union austreten soll oder nicht.
Dieser mittlerweile unter dem Namen „Brexit“ bekannte mögliche Austritt ist ein extrem umstrittenes Thema und würde enorme Auswirkungen auf die Wirtschaft Großbritanniens haben, sollte diesem zugestimmt werden.
Doch welche Auswirkungen hätte dies für moderne Online-Sektoren wie den E-Commerce? In diesem Zusammenhang haben wir unsere proprietären Daten untersucht und dabei einige interessante Erkenntnisse gewonnen, die vor allem für Online-Unternehmen gelten.
Zuerst möchten wir Sie allerdings über die Hintergründe informieren. Was ist der Brexit eigentlich genau? Die Diskussionen rund um dieses Thema sind mittlerweile sehr erhitzt, wobei die Meinungen der Befürworter und Gegner des Brexit relativ klar auf der Hand liegen.
Die Befürworter des Brexit sind der Ansicht, dass die Größe und Bürokratie der EU den Einfluss Großbritanniens geschmälert und zu unzähligen lokalen, wirtschaftlichen Problemen, wie einem extremem Wettbewerb, geführt haben. Darüber hinaus möchten die Befürworter „angesichts der enormen aktuellen Immigrationsströme die nationale Identität wieder stärken“, wie in einem New-York-Times-Bericht kürzlich geschrieben stand. (Staatsbürger aus einem Land der EU haben das Recht, in anderen Mitgliedsstaaten zu leben und zu arbeiten.)
Außerdem sind viele der Meinung, die jährlichen übertriebenen Beitragszahlungen von 12,9 Milliarden GBP in den EU-Haushalt seien nicht akzeptabel.
Im Gegensatz dazu erklären Experten und Gegner des Brexit, dass durch einen Verbleib in der EU der Einfluss und die Sicherheit auf globaler Ebene erhalten werden könne. Ein Austritt aus der EU würde die britische Wirtschaft vernichten, eine Ansicht, die viele Wirtschaftswissenschaftler teilen. (Und tatsächlich fiel der Wert des Britischen Pfunds anlässlich der ungewissen Situation eines möglichen Brexit im Februar auf ein Sieben-Jahres-Tief.) Der Internationale Währungsfonds warnte am vergangenen Dienstag in einer Stellungnahme, der Brexit würde zu „enormen Herausforderungen für Großbritannien und die restlichen Länder Europas“ führen. Multinationale Banken wie Goldman Sachs warnen aktuell davor, dass ein Brexit zu einem Abzug ihrer Arbeitsplätze und Zentralen aus Großbritannien führen würde.
Selbst die Befürworter des Austritts erklären, dass dies negative Folgen für das Wirtschaftswachstum des Landes für die kommenden 15 Jahre haben würde.
Sollte sich die britische Bevölkerung für einen Austritt aus der Europäischen Union entscheiden, würden anschließend zweijährige Verhandlungen über den Austritt folgen, die vor allem die künftigen Beziehungen, besonders die Handelsbeziehungen, Großbritanniens mit der EU betreffen würden. Wirtschaftswissenschaftler erwarten, dass Exporte mit extrem hohen Zöllen belegt und durch andere wirtschaftliche Maßnahmen beeinträchtigt werden würden, sollte Großbritannien innerhalb des Markts der Europäischen Union weiterhin Handel betreiben.
Wenn wir den Blick zurück auf Online-Unternehmen und -Umsätze schwenken, wird offensichtlich, dass ein Brexit empfindliche Folgen für den E-Commerce hätte, einen Sektor, der ein zunehmend wichtiger Faktor der britischen Wirtschaft ist.
Im vergangenen Jahr konnte die britische Wirtschaft alleine durch Verkäufe aus dem B2C-E-Commerce Umsätze in Höhe von 60 Milliarden GBP erzielen. Hochrechnungen aus dem vergangenen September wiesen darauf hin, dass „Großbritannien auch weiterhin weltweit der Markt sein wird, auf dem die Umsätze aus dem E-Commerce den höchsten Anteil am Gesamtumsatz aus dem Einzelhandel haben werden“, hieß es in einem eMarketer-Bericht. Darüber hinaus wurde prognostiziert, dass der britische Anteil am weltweiten E-Commerce von 14,5 % im Jahr 2015 bis zum Jahr 2019 auf 19,3 % ansteigen wird.
Westeuropäische Märkte haben aktuell einen Anteil von über 50 % an den britischen E-Commerce-Exporten.
Allerdings wären diese Hochrechnungen und Zahlen nicht mehr so positiv, sollte es tatsächlich zu einem Brexit kommen. Doch wie groß wären die Folgen genau? Wir haben kürzlich mit Erdem Tokmakoglu, einem Global Online Strategist unseres Global Growth Teams, gesprochen, um dies herauszufinden.
Tokmakoglu hat die Performance führender britischer Websites untersucht, die wir für Modehändler aus dem Einzelhandel lokalisieren. Modehändler aus dem Einzelhandel sehen sich im Fall wirtschaftlicher Veränderungen generell einem höheren Risiko ausgesetzt. Dies liegt vor allem an den möglichen höheren Zöllen, nichttarifären Handelshemmnissen und dem zu erwartenden Kostenanstieg (als Folge der Abwertung des Britischen Pfund).
„Unter Berücksichtigung der jährlichen und prognostizierbaren Saisonalität der britischen E-Commerce-Websites aus der Modeindustrie, die wir betreiben“, erklärt Tokmakoglu, „konnten wir bereits seit dem vergangenen Monat einen durchschnittlichen Rückgang der Seitenzugriffe von 1 % beobachten, der darauf zurückzuführen ist, dass die Diskussionen über einen möglichen Brexit gerade am intensivsten sind.“
Dies ist bis zum jetzigen Zeitpunkt lediglich als kurzfristiger Rückgang an Seitenzugriffen und Umsätzen zu bewerten, nichtsdestotrotz ist es ein Verlust. Tokmakoglu hebt richtig hervor, dass diese Schwankungen lediglich auf Marktreaktionen auf die Neuigkeiten über den Brexit zurückzuführen sind, allerdings nicht auf den Brexit selbst.
Sollte im Juni einem Austritt zugestimmt werden, werden die Umsätze laut Modellen der London School of Economics and Political Science's Centre for Economic Performance (CEP) zurückgehen, sagt Tokmakoglu. Aus diesen Modellen wird ersichtlich, dass ein Anstieg der Handelskosten zwischen Großbritannien und der Europäischen Union zu einer sofortigen Reduzierung des britischen Einkommens von einem BIP von 1,1 % auf 3,1 % führen könnte, einem Verlust von 50 Milliarden GBP.
Allerdings werden diese Verluste „auf Basis eines herkömmlichen, statischen Handelsmodells“ prognostiziert, „das nicht die dynamischen Auswirkungen des Handels auf den Produktivitätszuwachs berücksichtigt“, hieß es in einem Bericht der CEP. „Kürzliche Untersuchungen haben ergeben, dass die dynamischen Auswirkungen die statischen Auswirkungen um ein Doppeltes oder Dreifaches übersteigen können.“
MotionPoints Benchmarks britischer E-Commerce-Einzelhändler aus der Modebranche weisen darauf hin, dass 50 % der Seitenzugriffe auf britische Websites aus Märkten der EU erfolgen, wobei Verbraucher aus Frankreich (24 %), Deutschland (14 %), Italien und Spanien am häufigsten diese Websites besuchen. Daraus wird ersichtlich, dass der britische E-Commerce eindeutig von den Märkten der Europäischen Union abhängt.
Wir haben bei MotionPoints Benchmarks britischer E-Commerce-Einzelhändler aus der Modebranche das optimistischste Szenario der CEP angewandt (einen statischen Rückgang der Konversionsraten von 1,8 %). Bei einem Online-Händler mit einer moderaten Anzahl von 5 Millionen jährlichen Seitenzugriffen und einem durchschnittlichen Bestellwert von 50 GBP würde ein Rückgang der soliden Konversionsrate von 3 % auf der Website um 1,8 % zu einem Umsatzverlust in Höhe von 135.000 GBP führen.
Websites mit mehr Seitenzugriffen und einem höheren durchschnittlichen Bestellwert müssten dementsprechend mit größeren Verlusten rechnen.
Allerdings sind in diesen Hochrechnungen die dynamischen Auswirkungen, vor denen die CEP warnte, nicht berücksichtigt, die diese Verluste verdreifachen könnten.
„Eine weitere entscheidende Ursache dieser Verluste würde in den zusätzlichen Regelungen und Vorschriften bestehen“, erklärt Tokmakoglu. „Wir wissen, dass E-Commerce-Kunden auf internationalen Märkten sehr empfindlich auf Zollbeschränkungen reagieren, den maximalen Betrag, für den sie einkaufen können, bevor sie zusätzliche Kosten für die Einfuhr der Artikel zahlen müssen.“
Wir sind der Ansicht, dass europäische Verbraucher wahrscheinlich weniger Käufe auf britischen E-Commerce-Websites tätigen würden, sollte es tatsächlich zu einem Brexit kommen. Laut Tokmakoglu kann man die daraus resultierenden Auswirkungen feststellen, indem man das Kaufverhalten von Verbrauchern auf anderen internationalen Märkten untersucht.
In diesem Zusammenhang möchten wir südkoreanische Verbraucher als Beispiel heranziehen. Aufgrund der unglaublich teuren, lokal angebotenen Produkte lieben es Koreaner, auf Websites westlicher Unternehmen einzukaufen. Sie nutzen die Verkaufsaktionen dieser Websites und nutzen die angebotenen Ermäßigungen, um ihre Kaufkraft zu maximieren.
„Allerdings ist es sehr interessant, dass sich der maximale Bestellwert dieser Verbraucher selbst zum Zeitpunkt dieser Verkaufsaktionen mit den größten Rabatten dem Schwellenbetrag des Einfuhrzolls zwar annähert, diesen aber nie überschreitet“, sagt Tokmakoglu. „In diesem Sinne nimmt die Zollfreigrenze entscheidenden Einfluss darauf, wie viel Geld südkoreanische Verbraucher auf britischen Websites ausgeben möchten. Wir erwarten bei europäischen Verbrauchern einen ähnlichen Effekt.“
Unsere Erkenntnis: „Wir sind der Meinung, dass ein Brexit extrem schädliche Folgen für den britischen Mode-E-Commerce haben würde“, erklärt Tokmakoglu. „In einer dann sehr unsicheren Situation würden den britischen Einzelhändlern zunehmend hohe Kosten entstehen. Diese Kosten könnten nur dann so gering wie möglich gehalten werden, wenn Großbritannien mit der Europäischen Union und anderen führenden Wirtschaftskräften schnellstmöglich ein Freihandelsabkommen unterzeichnen würde. Allerdings würde es selbst in diesem Fall zu erhöhten Kosten und Verlusten kommen.“