Lesedauer: 6 Min. | Reagan Evans | 12. Mai 2016 |
China zeigt nicht mehr das erstaunliche jährliche Wachstum der vergangenen Jahre. Vor allem im industriellen Sektor des Landes ist dies zu spüren. Die Beschreibung der Situation in der Tagespresse wechselt zwischen „besorgniserregend“ und „katastrophal“.
Nach Meinung unseres Analysten sind die Dinge nicht so schlimm, wie sie aussehen – schon gar nicht für westliche Unternehmen, die sich auf dem chinesischen Online-Markt für die Mittelschicht engagieren möchten. (Mehr dazu später.) Es kann allerdings nicht bestritten werden, dass Chinas Wirtschaft nach 40 Jahren stratosphärischen Wachstums an Kraft verloren hat.
Um dem Rückgang zu begegnen und Millionen chinesische Industrieangestellte in Arbeit zu halten, bemüht sich die Regierung, das Wachstum zu unterstützen. Am Montag empfahl sie für chinesische Unternehmen Anreize zur Exportförderung. Diese Politik, die eine ausgedehntere Kreditvergabe durch Banken und verbesserte Versicherungsbedingungen für Exporteure beinhaltet, zielt auf die Rückgewinnung verlorenen Bodens, nachdem die Exporte im letzten Monat zurückgingen.
Die relativ eingeschränkte, globale Wirtschaftslage (im Vergleich zu den letzten vier Jahrzehnten ungehemmten Exportwachstums) hilft hier nicht. Die wachsende Konkurrenz durch andere asiatische Märkte auch nicht.
Tatsächlich klang die Nachricht aus dem Staatsrat am Montag düster: „Gegenwärtig ist die Lage im Außenhandel kompliziert und ernst, Unsicherheiten und Instabilität steigen und der Druck von oben nach unten wächst ständig“, hieß es.
Weitere schlechte Nachrichten: Eine aktuelle Studie des Wall Street Journals ergab, dass China mit der Produktion von Stahl, Aluminium und anderen grundlegenden Industriegütern fortfährt, um unprofitable Fabriken in Betrieb zu halten, obwohl dies auf dem globalen Markt zu einem massiven Preisverfall führt. Damit werden Wettbewerber extrem unterboten und es gehen Arbeitsplätze in anderen Märkten verloren, auch in den USA.
Ein kürzlich erschienener Gastartikel in The New York Times des chinesischen Autoren Murong Xuecun legt nahe, dass Chinas Mittelschicht zunehmend ängstlicher wird. Lokale Social Media-Netzwerke reflektieren die Ängste: Die 10 Ängste der Mittelschicht lautet eine der Thread-Überschriften. Wird die Mittelschicht zur neuen Unterschicht? heißt es in einer anderen.
„Zur bestehenden Liste täglicher Sorgen wegen des Smogs und der Belastung von Nahrungsmitteln und Wasser kommt die wirtschaftliche Unsicherheit hinzu“, schreibt Xuecun. „...Diskussionen darüber, wie man sein Geld außer Landes bringen oder es in ausländische Währungen umtauschen kann, sind an der Tagesordnung.“
Die Wirtschaftspresse hat ein Recht darauf, zum wirtschaftlichen Rückgang zu berichten. Man sollte die Leser aber auch darauf hinweisen, dass die chinesische Wirtschaft im letzten Jahr noch immer mit einem halsbrecherischen Tempo von 6,9 % wuchs. (Im Gegensatz dazu wuchs die US-Wirtschaft um 2 %, wenn man das 1. Quartal 2015 mit dem 1. Quartal 2016 vergleicht. Die deutsche Wirtschaft wuchs um 1,7 %.) Wie von vielen Analysten vorausgesagt, beruhte ein großer Teil dieses Wachstums auf dem Verbraucherkonsum. Städtische Haushaltseinkommen wuchsen in China im letzten Jahr um fast 10 %. Der Plan des Landes, sich von einer Produktionsgesellschaft zu einer höherwertigen Dienstleistungsgesellschaft zu mausern, trägt Früchte: Im letzten Jahr entstanden 13 Millionen Arbeitsplätze im Land, die meisten in den Dienstleistungsbranchen. Damit wurde das Staatsziel von 10 Millionen übertroffen, wie Forbes vor kurzem berichtete.
Das Wachstum im Arbeitsmarkt beschränkte sich nicht auf 2015. Der Dienstleistungssektor expandierte im ersten Quartal dieses Jahres um nahezu 8 %.
Wir sprachen mit Eric Watson, Fachmann für globale Online-Strategie in unserem Global Growth Team, über dieses Thema. Bleibt China für westliche Unternehmen ein idealer Markt für Engagement und Verkauf, vor allem online?
„Absolut, vor allem, wenn man sich die langfristigen Aussichten für die chinesische Wirtschaft anschaut“, so Watson. „Es gibt mehrere Anzeichen für Besserung, auch auf kurze Sicht.“
Zum einen herrsche hohe Konsumfreudigkeit, meint Watson. Das chinesische Einzelhandelsimperium Alibaba wird Walmart demnächst dank seines Tmall-Online-Marktplatzes und anderer E-Commerce-Plattformen als weltgrößten Einzelhändler überholen. Chinas Verbraucher gaben im letzten Jahr fast 500 Milliarden USD auf Alibaba-Seiten und für Alibabas Dienstleistungen aus. Der Umsatz des Unternehmens stieg im 4. Quartal 2015 um nahezu 40 %, die Gewinne um über 80 %.
Ein großer Teil dieses Wachstums bestehe aus „erstmals gestiegenem Verbrauch“, berichtete China Daily im März. „Online-Shopping ist ein wichtiger Motor für die Konsumförderung“, bemerkte ein Analyst gegenüber der Zeitung, „der der Strategie des Landes zur Förderung der einheimischen Nachfrage entspricht.“
Abgesehen von Alibaba steigerte sich der Gesamteinzelhandelsumsatz des Marktes im März um 10,6 %, das war etwas mehr als erwartet. Das Wachstum war damit höher als die Rate von 10,2 % im Januar und Februar.
„Diese Zahlen sind beeindruckend, aber ihre Bedeutung wächst noch, wenn man sie auf den Umfang der chinesischen Bevölkerung bezieht“, erläutert Watson. „Denken Sie daran: Wir haben bislang erst einen Bruchteil des chinesischen Konsumpotenzials vor uns. Neben der sich beschleunigenden Steigerung der Einzelhandelsumsätze kann man dieses Potenzial an der Internet-Durchdringung des Landes ablesen, vor allem an der Zahl derer, die noch nicht online sind.“
Gegenwärtig haben erst die Hälfte der 1,3 Milliarden Einwohner Chinas Internetzugang, erklärt Watson. (In den entwickelten ostasiatischen Ländern Japan und Südkorea sind es 91,1 % bzw. 85,7 %.)
Selbst bei einer Internet-Durchdringung von 50 % sind dies immer noch mehr als ein Fünftel aller Internetnutzer der Welt. Und die Zahl steigt: Die Internet-Durchdringung in China ist seit 2013 um mehr als 11 % gestiegen.
Kehren wir für einen Moment zurück zu Chinas Mittelschicht. Sie wächst, aber sie befindet sich noch in den Kinderschuhen. Nur 11 % der Bevölkerung lassen sich gemäß Goldman Sachs der Mittelschicht zuordnen. Trotzdem verfügen chinesische Haushalte über kumulative Netto-Barreserven von mehr als 4,6 Billionen USD, wie Forbes vor kurzem berichtete. Die Ängste, die die Verbraucher der Mittelschicht, wie im Artikel der New York Times erwähnt, formulieren, sind de facto vollkommen natürlich und zu erwarten, so Watson.
„Diese Sorgen sind völlig legitim“, sagt er, „aber sie sind auch genau die Art von Sorgen, die man von einer radikal neuen Bevölkerungsschicht des Landes erwarten muss: Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben ein noch nie dagewesenes Niveau an Komfort und Konsum erleben.“
Langfristig gesehen erscheint es fast selbstverständlich, dass sich die Wünsche einer neuen chinesischen Mittelschicht – einer, die fast ausschließlich in urbanen Umgebungen lebt, internationale Artikel kaufen und häufiger ins Ausland reisen möchte – an einem politischen und wirtschaftlichen System reibt, das sich an diese Wünsche erst noch anpassen muss. Wenn diese Bürger Angst vor Einschränkungen durch einen Wirtschaftsabschwung haben, dann werden sie das natürlich auch sagen.
„Die Furcht vor Instabilität ist wahrscheinlich unbegründet, weil im Wesentlichen das vorhandene politische und wirtschaftliche System für einen Großteil des Wohlstands und Wachstums verantwortlich ist“, erklärt Watson. Berichte legen nahe, dass fast die Hälfte von Chinas Mittelschicht aus Angestellten von staatlichen Behörden oder Unternehmen im Staatsbesitz besteht.
Wie Xuecun in seinem Artikel in The New York Times beobachtet, „erkennen sie, dass das Einparteiensystem die Ursache für einen Großteil ihrer Unzufriedenheit darstellt, wissen aber auch, dass dieses System für ihr bequemes Leben sorgt“.
Das schnelle Wachstum der chinesischen Mittelschicht, verbunden mit der jahrzehntelangen ökonomischen Verlagerung hin zu einer Konsum- und dienstleistungsorientierten Wirtschaft, die für dieses Wachstum nötig ist, wird ohne Zweifel zu weiteren Stolpersteinen und Ängsten führen. Nichts ist perfekt, wie Watson unterstreicht.
„Unternehmen, die eine Expansion in den chinesischen Markt, vor allem online, erwägen, brauchen sich nur das Wachstum bei Konsum, Einkommen und wechselnden Konsumentenvorlieben anzuschauen, um erkennen zu können, dass dort ein hungriger Markt vorhanden ist“, sagt er. „Wenn man sich die Leistung von Einzelhändlern wie Alibaba und die stetig wachsende Internet-Durchdringung anschaut, ist es klar, dass der Konsum in diesem Markt erst am Anfang steht.“
Fazit: Chinas Wirtschaft wächst vielleicht nicht mehr so aggressiv wie in den vorangegangenen Jahrzehnten – die klare Folge der Abkehr von einer Produktionswirtschaft und Hinwendung zur Dienstleistungsgesellschaft. Ein wachsender Dienstleistungssektor schafft jedoch mehr Arbeitsplätze und Konsum. Auch in unruhigen Gewässern bleibt China eine kluge kurz- und langfristige Wahl für die internationale Expansion – vor allem online.